IRIS PubliCatt

Mito e realtà. Mythos und Realität

Marassi, Massimo

2012

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Abstract

Schön waren jene Zeiten, als das Labyrinth ein reales Gebilde war: Man sah es, konnte es wagemutig betreten, und wer das meiste Glück hatte, erreichte den Ausgang und erntete ewigen Heldenruhm. Auf jeden Fall stellte das Durchqueren des Labyrinths den Initiationsritus der Reinigung und Erneuerung dar; das Labyrinth widerspiegelte eine magische Welt oder den Himmel mit seinen Sternen, die niemals von der Bahn abkamen. Vielleicht war das Labyrinth auch ein kniffliges Denkspiel, ein Schachbrett, auf welchem man seinen ganzen Selbstwert mit einem unbekannten Feind mass, oder es war letztlich das Schreckbild der eigenen Niederlagen. Auch wenn die Seele nie wirklich unbesiegbar war, so fand sie auf dieser labyrinthischen Strecke ohne Fluchtmöglichkeiten doch den eigenen Weg vorgezeichnet, kaum gangbar und einsam; einen Weg, auf welchem jeder Schritt zur unwiderruflichen und endgültigen Entscheidung wurde. Plinius’ Aufzählung konkreter Labyrinthe – des ägyptischen, kretischen, desjenigen von Lemnos und Chiusi, beschrieben in der “Naturalis historia” (XXXVI, 19) – erscheint nicht so gewaltig im Vergleich zum sinnbildlichen Gebrauch des Ausdrucks, der einen komplizierten, sehnsuchtsvollen und von Ausweglosigkeit gekennzeichneten Zustand des Geistes beschreibt. In der Tat muss man das sechste Jahrhundert und Boethius’ “De consolatione philosophiae” (III, 12) abwarten, um auf viel schrecklichere Labyrinthe als die wirklichen zu stossen, nämlich auf unergründliche Wege, welche die Logik des Traumes schuf. Das Labyrinth des Lebens erstreckt sich vom Horizont der Geburt bis zu jenem des Todes und verläuft auf engen verschlungenen Pfaden. Und wir wünschen uns, das Labyrinth möge hin und wieder die unvorstellbare Farbe der Hoffnung und in unzähligen Begegnungen das reine Antlitz des Trostes und des Glückes enthüllen – oder wenigstens einen Schimmer davon.